Interview: Ex-BILD-Chef Kai Diekmann im Gespräch
„Soziale Medien: Man muss neurotisch sein“
Ex-BILD-Chef Kai Diekmann (54) im Interview mit Sandra Pabst für PRINT&more über seine neue Agentur Storymachine, die dramatische Machtverschiebung von klassischen Medien zu sozialen Plattformen und seine Zeit bei BILD.
Herr Diekmann, Sie haben mit Philipp Jessen, Ex-Chef von stern.de, und Event-Manager Michael Mronz die Social-Media-Agentur Storymachine gegründet. Was macht Storymachine überhaupt?
Storymachine ist eine Reaktion auf das veränderte Mediennutzungsverhalten. Die jüngere Generation konsumiert Inhalte völlig anders, als wir es noch gelernt haben. Die Millennials sind über Netzwerke wie Facebook, Instagram, Snapshot oder Twitter medial sozialisiert worden. Wenn ich diese Gruppe erreichen will, muss ich digital kommunizieren. Früher brauchte ich eine Fernsehstation oder eine Druckerei, um ein Massenpublikum zu erreichen. Heute halten die sozialen Plattformen diese Infrastruktur bereit. Ich muss aber wissen, wie ich sie nutze und wie das Geschichtenerzählen funktioniert. Mein Standardbeispiel ist Donald Trump, der vor allem über Twitter kommuniziert. Er hat 53 Millionen Follower, mehr als CNN oder die New York Times auf diesem Kanal und ist somit Herr seiner Botschaften. Dem ist egal, was Mainstreammedien links und rechts über ihn berichten. Er kommuniziert direkt.
Und was macht Storymachine anders als die anderen?
Die verkaufte Auflage aller deutschen Tageszeitungen sank in den letzten Jahren von 28 Millionen auf unter 15 Millionen Stück. Gleichzeitig nutzen in Deutschland 31 Millionen Menschen Facebook, davon 23 Millionen jeden Tag. Das zeigt uns, wie Inhalte konsumiert werden. Die digitale Bühne wird immer wichtiger. Viele Agenturen sprechen jedoch eine Sprache, die „werbisch“ heißt. Darauf reagieren Millennials allergisch, es sei denn, die Werbebotschaft kommt in einem adäquaten Storytelling daher. Storytelling ist ein Handwerk, das Journalisten beherrschen. Wir sind Journalisten, die das für unsere Partner machen und für jeden Kanal die richtige Sprache finden.
Was macht mehr Spaß – Unternehmer oder Chefredakteur?
Beides zu seiner Zeit. Ich war 15 Jahre Chefredakteur bei BILD, 16 Jahre Herausgeber und über zwei Jahre Chefredakteur bei der Welt am Sonntag. Ich hatte genügend Zeit, mich auszutoben. Mir macht Kommunikation Spaß. Mit den neuen Medien kann ich zielgerichtet das Publikum ansprechen, das mich interessiert. Es geht nicht darum, nur etwas auszusenden, sondern um echte Auseinandersetzung.
Aber ganz so stressig wie vorher ist es nicht mehr, oder?
Es ist völlig anders. Als Unternehmer für den Aufbau eines Unternehmens verantwortlich zu sein, ist eine andere Form von Stress. Selbstständig sein heißt ja: Man macht alles selbst und das ständig. Hier sind wir dabei, Strukturen aufzubauen. Das ist eine tolle Herausforderung.
Viele klassischen Medien kämpfen um ihre Auflage. Die Bevölkerung altert, die Lesegewohnheiten ändern sich. Ein unvermeidlicher Prozess?
Als Medium muss ich auf veränderte Lese- und Sehgewohnheiten reagieren. Das, was zuerst der Musikbranche und dann der Printbranche passiert ist, trifft jetzt das Fernsehen. Die Vorstellung für einen Millennial, nicht zu jedem Zeitpunkt die gewünschten Inhalte abzurufen und zu sehen, ist für ihn absurd. Wenn ich lerne, dass ich Inhalte nicht suchen muss, sondern dass sie mich finden, weil sie mir von einem Algorithmus zugeeignet werden, ändert das mein komplettes Medien- und Nutzungsverhalten. Das muss ich begreifen, wenn ich erfolgreich sein will. Gleichzeitig gibt es einen Bedarf an gutem Journalismus. Das Internet hat dafür gesorgt, dass jeder sein eigener Publisher sein kann. Aber in einer Welt, in der sich jeder inszeniert, brauchen wir Journalisten, um diese Inszenierungen zu überprüfen.
Gräbt Google den Verlagen und ihren Printerzeugnissen das Wasser, sprich: die Einnahmequellen ab?
Es ist kein Naturgesetz, das ich einen Anspruch auf Vertriebs- oder Werbeerlöse habe. Neue Technologien führen zu veränderten Lebensgewohnheiten. Will ich erfolgreich sein, muss ich mich anpassen. Das ist in der Geschichte nie anders gewesen. Die Segelschifffahrt hat auch nicht darauf bestehen können, dass keine Dampfschiffe gebaut werden. Die Kutschen haben irgendwann Probleme mit den Autos bekommen. Den Glauben, ich kann ein Geschäftsmodell, das möglicherweise technisch überholt ist, mit Regulierung schützen, halte ich für einen Irrglauben.
Immer mehr Medien, auch Lokalblätter, lassen sich ihre meisten Inhalte inzwischen bezahlen, Stichwort Paywall. Ist das der richtige Weg?
Vertriebserlöse allein werden es nicht mehr richten. Printwerbung ist verglichen mit digitaler Werbung unglaublich teuer und ineffizient, mit hohen Streuverlusten. Deshalb funktioniert das Geschäftsmodell an dieser Stelle auch nicht mehr so wie früher. Das Herausgeben einer Zeitung war im 20. Jahrhundert eine Lizenz zum Gelddrucken. Ich halte es für richtig zu sagen, unsere Inhalte sind wertvoll und dafür nehmen wir auch Geld. Bei Netflix oder Spotify bezahlt der Nutzer auch, um Inhalte zu bekommen, die woanders nicht geboten werden.
Der Trend geht zum Digital Native Advertising, also digitale Werbeanzeigen, die inhaltlich und optisch wie journalistische Artikel wirken. Worauf müssen Verlage dabei achten?
Verlage haben das in der alten analogen Welt schon immer gemacht. Was ist eine Sonderveröffentlichung anderes als eine Anzeige? Auch hier wollte man dem Leser den Eindruck vermitteln, es handelt sich um einen redaktionellen Text. Diese Texte sind auch von Redaktionen erstellt worden. Für die Millennials ist die strikte Trennung zwischen Werbung und redaktionellem Inhalt nicht so relevant. Dennoch muss die Qualität stimmen.
Sind Messenger-Dienste, wie WhatsApp, ein Feld, das Storymachine bespielen will?
Wir konzentrieren uns auf Facebook, Twitter, Instagram und LinkedIn. Instagram zum Beispiel eignet sich hervorragend für die Mitarbeiterkommunikation. Viele Unternehmen legen Wert auf eine Mitarbeiter-App. Doch wo sind die Mitarbeiter? Im Zweifelsfall auf Facebook oder Instagram, aber nicht in der Mitarbeiter-App. Das Ziel muss also sein, auf den relevanten Plattformen mit den Mitarbeitern zu kommunizieren und sich als attraktives Unternehmen zu präsentieren. Die Innovationsgeschwindigkeit hat dramatisch zugenommen. Da muss man auch ein Stück neurotisch sein und sich darauf einstellen.
Sie haben bei BILD lange Jahre wie kaum ein anderer Journalist die Medien in Deutschland dominiert. Vermissen Sie manchmal die wilden Zeiten in der Redaktion, den Ideenstreit um die beste Seite-1-Schlagzeile des Folgetags?
Es ist ja nicht so, dass ich das nicht lange genug gemacht hätte. Ich hatte zweimal das Glück, mich komplett neu erfinden zu können. Das war einmal der Umzug von Hamburg nach Berlin, was für die Redaktion wie ein Jungbrunnen war, und dann der Aufenthalt im Silicon Valley. Das war eine großartige Zeit. Einmal Journalist, immer Journalist. Das legt man im Kern nicht ab, auch nicht bei Storymachine. Wir können Geschichten erzählen und nutzen dafür die Möglichkeiten der neuen digitalen Welt.
Der VDZ unterstützt die Stiftung Integration, um Einheimische und Einwanderer einander näher zu bringen. Auch Sie haben die Stiftung lange unterstützt. Sind wir beim Thema Integration wirklich weiter als noch vor wenigen Jahren? Oder treten wir auf der Stelle?
Ich habe zumindest das Gefühl, dass bei manchen Medien die Lebenslügen, mit denen sie über Jahre das Thema Integration betrachtet haben, zerbrechen. BILD ist über Jahrzehnte der Vorwurf gemacht worden, wir seien ausländerfeindlich, weil wir bestimmte Themen angesprochen haben. Wir haben thematisiert, dass etwas nicht in Ordnung ist, wenn der Anteil jugendlicher Ausländer in der Arbeitslosenstatistik überproportional hoch ist oder wenn auf dem Schulhof kein Deutsch mehr gesprochen wird. BILD hat mit aller Konsequenz die Probleme thematisiert, die sich aus der falschen Integrationspolitik ergeben haben und ist dafür von den Linken attackiert worden, von den Rechten wurden wir für unsere „Refugees Welcome“-Kampagne angegriffen. Mit anderen Worten: BILD sitzt zwischen allen Stühlen und ich finde, das ist ein ganz hervorragender Platz für Journalisten.
Für wie gefährlich halten Sie die gesellschaftliche Entwicklung, dass sich große Bevölkerungskreise fast nur noch untereinander, etwa über Facebook-Gruppen, austauschen, und die etablierten Printmedien nicht mehr ernst nehmen?
Die Medien befinden sich in einer Legitimationskrise, die sie zum Teil selbst verschuldet haben. Ein Beispiel ist die Debatte, die auch ich jahrelang mit dem Presserat geführt habe, ob es richtig ist, bei einer Straftat den ethnischen Hintergrund eines Täters zu nennen oder nicht. Dadurch entstand der Eindruck, dass die Medien etwas unter der Decke halten oder beschönigen. Das hat zu einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung geführt. Die klassischen Medien sind nicht mehr die „Gatekeeper“, die darüber entscheiden, wer mit seiner Meinung ein Massenpublikum findet. Wir haben immer geglaubt, dass der Wechsel von der gedruckten Zeitung zur digitalen Oberfläche die entscheidende Disruption war. Nein, da sind zwar unsere Vertriebserlöse angegriffen worden. Für viel entscheidender halte ich aber die dramatische Machtverschiebung von den klassischen Medienmarken hin zu den sozialen Plattformen.
Zum Schluss: Ihre Lieblingszeitschrift? Worin schmökern Sie am liebsten?
Ich haben den „stern“ wiederentdeckt, weil ich dort immer wieder Themen finde, die mich interessieren oder einen Nerv treffen. Ganz anders ist die Entwicklung beim „SPIEGEL“. Früher war ich geradezu süchtig nach dem Magazin. Heute erschüttert es mich selbst, dass ich seit Monaten keinen gedruckten „SPIEGEL“ mehr zur Hand genommen habe und ich nicht sagen kann, wann ich mir ein Titelbild wegen dessen Relevanz gemerkt hätte.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das komplette Interview erschien in der PRINT&more vom Verband der Zeitschriftenverleger VDZ
Fotos: Privat